Gedanken zur russischen Seele

Standard

Es fing an mit diesem „Unwort des Tages“:

„ein noch unmündiges Volkstum“

Oswald Spengler über die Russen

Dann las ich weiter in dem gleichzeitig so einsichtigen wie ignoranten Text:

„So hätte das weite Land mit seinem schweifenden Volkstum noch Jahrhunderte dauern und auf seine Zukunft warten können …, wenn nicht ein Mann von ungeheurer weltpolitischer Bedeutung aufgetreten wäre, Peter der Große.“

Der den Russen dann westliche „Rationalität“, i.e. „Denken in Geld“ aufpfropfte.

Aber da steht auch:

„… der dem echt russischen Denken unzugängliche und unverständliche Geist des westlichen Rationalismus …“

„Es entstand ein Typus des intelligenten Russen, der wie der Reformtürke, Reformchinese und Reforminder seelisch und geistig durch Westeuropa bis zum Zynismus verflacht, entleert, verdorben ist.“

„… das westlich-kapitalistisch gerichtete Wirtschaftsdenken, das vom Russentum weder geschaffen noch verstanden, sondern eingeführt und ertragen wurde …“

„Man empfand das »Geld« und alle von ihm beherrschten Wirtschaftsformen, kapitalistische und sozialistische, als sündhaft und satanisch …“

Spengler sieht in einem Haß des russischen Volkes auf die westlich-fremdgeprägte Oberschicht die Quelle des zerstörerischen Bolschewismus, eine tief empfundene, diametrale Umkehrung des ebenso tief  als fremd empfundenen Kapitalismus.

Nationale Eitelkeit des Westens als Gegensatz zur „mystischen Volksseele“ der Russen.

Spengler sieht eine generelle mystisch-ehrgeizige Tendenz des russischen Volkes nach Süden, nicht etwa nach Westen. Und wer dieser Tendenz entgegenwirkt, dem gilt die aus diplomatischer Sicht irrationale Abneigung der Russen, sagt er.

Die Bagdadbahn als deutscher Generalfehler aus Ahnungslosigkeit über das Wesen des russischen Volkes? Spengler hält das kaiserzeitliche Projekt 1922 für wirtschaftlich wie politisch unsinnig. Hat er den Wechsel der industriellen Machtgrundlage um 1900 nicht mitbekommen? Öl statt bisher Kohle?

„Das (der Kapitalismus, freew.) hat zahlreiche Russen aus »Angst vor dem Mehrwert« zum Selbstmord getrieben, weil sie aus ihrem primitiven Fühlen und Denken heraus sich keine Art von Erwerb vorstellen konnten, durch die nicht andere »Mitmenschen« »ausgebeutet« wurden. … Dieses russische Denken erblickte in der Welt des Kapitalismus einen Feind, ein Gift, die große Sünde …“

Primitives Fühlen und Denken, ja? Glasklare, völlig korrekte Einsicht nenne ich das, Herr Spengler, nichts anderes. Der Slawe (der noch Slawe ist) spürt immer noch, was dem Germanen (der längst nicht mehr Germane ist) seit tausend Jahren vom römischen Ungeist ausgetrieben wurde: Die Erde ist für alle da. Niemand kann besitzen, ohne wegzunehmen. Großzügigkeit ist Pflicht für die von der Erde reich beschenkten Menschen. Wer beschenkt wird und nicht gleichermaßen weiterschenkt, sondern festhält, der versündigt sich an der Erde, die für ihre Gaben auch nichts berechnet und ihr eigenes, völlig zahlenloses Buchungssystem hat: gefühlter Ausgleich.

Kein Wunder, daß ich mit „primitivem Fühlen und Denken“ soviel anfangen kann. Slawische Großzügigkeit liegt mir eben mehr als römische Extremabstraktion.

„… der Haß der Bauern gegen den Mir, den Dorfkommunismus, der dem allgemein bäuerlichen, aus der Tatsache der in Generationen dauernden Familie folgenden Eigentumsinstinkt widersprach …“

Da hat er was gründlich mißverstanden, der Herr Spengler. Dem russischen Bauern war die Vorstellung fremd, man könne das großzügige „Mütterchen“ Erde als Eigentum beanspruchen, wo es doch ganz klar umgekehrt ist: Die Menschen sind Teil der Erde, gehören ihr als ihre Kinder. Ihr Haß gilt nicht dem Mir, der war ihre traditionell praktizierte, als ausgeglichen empfundene Wirtschaftsweise, die es weitgehend vermied, wesentlich in die natürlichen Gegebenheiten der bewohnten Landschaft einzugreifen, und Ungerechtigkeiten bei der Verteilung der Flächen bestmöglich ausglich. Das Problem war der Feudaladel, der das Land und die wie Pflanzen und Tiere zu diesem Land gehörenden Menschen als Eigentum beanspruchte. Dieses Konzept von Eigentum an der Erde und ihren Geschöpfen war es, das der russischen Seele zuwider war, nicht ihre eigene, jahrtausendealte Dorforganisation.

„… ein ganz urzeitlicher, religiöser Haß gegen unverstandene, als gottlos empfundene Mächte, die man nicht umformen sondern vernichten will, damit das eigene Leben seinen alten Gang wieder annehme.“

Das dürfte stimmen. Den habe ich auch in mir, wenn ich ihn auch nicht als Haß bezeichnen würde, sondern moderater als deutliche Abneigung. Was ich nicht in mir habe, ist die Demut und Leidenswilligkeit der Slawen.

„Es ist das Volkstum der Zukunft, das sich nicht ersticken und verfälschen läßt … hier ist ein neues Volkstum im Werden, das durch ein furchtbares Schicksal in seiner seelischen Existenz erschüttert und bedroht, zu seelischem Widerstand gezwungen sich festigen und aufblühen wird, leidenschaftlich religiös, wie wir Westeuropäer es seit Jahrhunderten nicht mehr sind und sein können, mit einer gewaltigen Ausdehnungskraft, sobald dieser religiöse Drang sich auf ein Ziel richtet.“

Ich habe meine Zweifel, daß es der russischen Seele zum Aufblühen verhilft, wenn sie es den Völkern der westlichen Kultur nachtut und ihr leidenschaftlich religiöses Streben auf ein Ziel richtet. Sie wird sich selbst fremd werden wie die Deutschen und Engländer, die nichts mehr gemein haben mit den vorrömischen Germanen. Die Russen werden nicht mehr Slawen sein, wenn sie vergessen, daß Mütterchen Erde sich selbst gehört und das Leben unentgeltlicher Selbstzweck ist. Je mehr sie die Geld- und Zinswirtschaft verinnerlichen und die Güterwirtschaft als lächerlich überholt empfinden, desto zerrissener und aggressiver wird es sie machen.

Möge die russische Seele sich selbst treu bleiben und den verirrten Volksseelen des Westens ein Leuchtturm im Tosen der Wirtschaftskrisenstürme.

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Nachtrag:

Der Grundzug der Zivil- und Staatsverfassung war demokratisch; man kannte ursprünglich keine Stände, keine erbliche Fürstenwürde (siehe auch: Wetsche). Das Band der Sippeneinheit hielt alle umschlungen, und der Starosta (Älteste) war nur Verwalter des Gesamtvermögens der Sippe. Die Einheit der Sippe schloss die Erbfolge aus. Hierdurch unterschieden sich die Slawen wesentlich von den Germanen und Romanen. Standesunterschiede, erbliche Fürstenmacht, Leibeigenschaft und Sklaverei bildeten sich infolge fremder Einflüsse erst später bei den Slawen aus. Die Bezeichnungen für die Fürstenmacht (knez, kralj, chrabia, cjesar) und den Adel (szlachta, Geschlecht) sind fremden Ursprungs.

Wikipedia

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