Der Mann war bis 1994 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts und verfaßte dieses Essay (?) im „Spiegel“ eine Woche, nachdem er diesen Posten nicht mehr inne hatte.
Zitate daraus:
Wichtig ist nur dies: Diejenigen, die die herrschende Meinung vertreten, wir brauchten keine Volksabstimmung, haben hierfür nichts in der Hand außer staatsrechtlichen Aufsätzen, denen von anderen Staatsrechtlern widersprochen wird.Das ist im Krisenfall wenig, wenn man begründen will, warum die Zusage des Grundgesetzes, daß das Volk über seine Verfassung abzustimmen habe, nicht gilt und das Volk statt dessen – in der Sprache der Einigungspraxis – abgewickelt wird, über die Vorstände von vier Parteien.
Wie die Parteien agieren, sind sie nicht Parteien des Volkes, sondern Parteien der Vertreter des Volkes. Vor fast zwei Jahrzehnten bereits hat eine vom Bundestag eingesetzte „Enquete-Kommission Verfassungsreform“ vor der „Tendenz“ der Parteien „zur Umdeutung ihrer Mittlerfunktion in eine eigene, sich selbst tragende politische Entscheidungsmacht“ gewarnt. Die Nation, so wissen wir seit der Französischen Revolution, wählt ihre Vertreter. Aber die Souveränität, um diesen altmodischen Ausdruck zu gebrauchen, liegt bei der Nation.
Abstimmung über das Grundgesetz hieße, dies über die Beteuerungen hinaus anzuerkennen. Es könnte ein Signal setzen, dessen Wirkung schwer abzuschätzen ist, das aber das prekäre Verhältnis zwischen den Volksvertretern und den Vertretenen zu entspannen vermag; die Parteien wären nach einer solchen Volksabstimmung nicht mehr die gleichen.
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Die Frage: Ist es wahr, daß „sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“ hat, wie es die Präambel besagt? Dem Parlamentarischen Rat mochte man die Wendung hingehen lassen, obschon er selbst nicht vom Volk gewählt worden war; er wollte ein Provisorium schaffen unter dem Regime der Besatzungsmächte, und dies für nur einen Teil des Volkes.
Aber jetzt? Wieso hat sich jetzt das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben? Wer ist das Volk?
Jedenfalls beantwortet sich diese Wahrheitsfrage nicht durch den Hinweis, daß es ja Volksvertreter gebe.
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Aber den Bundestagsabgeordneten fehlt für dieses Beiseitesetzen des Schlußartikels des Grundgesetzes die Vollmacht des Volkes. Sie üben Macht ohne Vollmacht. Der Vormund handelt ohne Vollmacht des Mündels.
Doch kann immerhin das Mündel, wenn es volljährig ist, die Verfügungen des Vormundes durch eigene ersetzen. Gemessen hieran geht es offenbar um eine Dauervormundschaft.
Kein Wunder, daß man heutzutage lesen kann, Demokratie sei ein „Angebot des Grundgesetzes an das Volk“. Fragte jemand nach dem Urheber dieses Angebots, müßte man antworten, daß die Volksvertreter die Urheber sind. Dann hätten wir also die verfassunggebende Gewalt der Volksvertreter. Dies wäre die Denkweise der Bevormundung.
Verfassunggebende Gewalt des Volkes heißt Selbstbestimmung des Volkes. Es verhält sich selbst zu einem vorgeschlagenen Verfassungstext, eignet sich an oder verwirft, was dort festgesetzt worden ist. In anderen europäischen Staaten mit Nachkriegsverfassungen war dies selbstverständlich.
Die Verfassung ist die Verfassung des Volkes, nicht die Verfassung für das Volk. Wer sich die Frage verfügbar macht, ob man das Volk über das Grundgesetz abstimmen lassen soll, der macht sich eben dieses Volk verfügbar. Legitimationsquelle der Verfassung sind also anstelle des Volkes die hierüber beschließenden Abgeordneten und Parteiinstanzen: Sie sind das Volk.
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